Sonntagmorgen in Ostfriesland: Eine ganze Völkerwanderung scheint auf den Straßen zwischen Ihlow und Burhafe unterwegs zu sein. Die Hauptsaison des Volkssports Boßeln hat begonnen.
1. Volkssport Boßeln
„Dein Auto solltest du da weg fahren. Es steht dort gefährlich.“ Ein Mann in Warnweste steuert zielgerichtet aus einem Trupp Menschen auf mich zu. Ich hatte am Strandrand geparkt, weil ich diese große Menschenmenge auf mich zukommen sah. Menschen in gelben Warnwesten, die direkt auf der Straße gingen. Seelenruhig. Was aussieht, wie eine Demonstration, ist in Ostfriesland an Novembersonntagen normal: Die Menschen laufen mitten auf der Straße und treiben ihren Lieblingssport: Boßeln. Autos stören sie dabei nicht, denn wer fährt schon sonntags Vormittags auf den Nebenstraßen? Eigentlich niemand, denn alle sind um diese Zeit zu Fuß auf der Straße.
2. Sonntags morgens Hochsaison
Also dachte ich, ich fahre besser rechts ran, als dass mich die Kugel trifft. Doch das war eben falsch. Mein Auto stand genau in Wurfrichtung. Ich konnte gleich wieder einsteigen und umparken. Der Mann, der mich angesprochen hatte, war nur die Vorhut einer ganzen Mannschaft, die hinter ihm um die Kurve bog. Kaum hatte ich mein Auto weggefahren, nahmen sie auch schon Anlauf und warfen die Kugel. Ich wartete, bis sie vorbei waren, wollte grade wieder einsteigen, da sah ich die nächste Mannschaft um die Ecke biegen. Und nach ihnen wieder die nächste. Man braucht also viel Zeit, wenn man sonntags die Nebenstrecken im Landesinneren von Ostfriesland benutzt. Tatsächlich warnen dort viele Schilder vorm Boßeln im Straßenverkehr.
3. Echter, norddeutscher Sport
Mit der Grünkohlzeit beginnt auch die Boßelzeit in Ostfriesland. Was viele Menschen jenseits der ostfriesischen Grenzen aus Spaß betreiben und die Boßelkugel als Alibi sehen, um unterwegs Schnaps zu verkosten, ist den Ostfriesen wirklich ernst. Eigentlich schon fast heilig. Boßeln ist in dieser Ecke Deutschlands ein echter Sport, der mehr Menschen in entsprechende Vereine lockt als Fußball. Dem Boßeln wird eine enge Affinität mit Schnaps zugesprochen. Das jedoch lehnen ernsthafte Boßeler entrüstet ab: Sie würden niemals während des Spiels zum Alkohol greifen, viel zu ernst ist es ihnen mit dem Friesensport.
4. So geht es
Es ist ein merkwürdiger Bewegungsablauf, den die Boßler auf der Straße hinlegen: Kurz Anlauf nehmen, Ziel anpeilen, schneller werden und dann irgendwie von unten diese rote Gummikugel in auf die Straße werfen. Meistens folgt noch etwas kehliges Geschrei, dann setzt sich am Ziel des Wurfes ein kleiner Trupp Menschen in Bewegung, fischt die Kugel aus dem Graben und vermerkt sich die Distanz. Ziel des Boßelns ist es, eine feste Strecke mit so wenig Würfen wie möglich zu überbrücken.
Was im Nordwesten Deutschlands das Normalste der Welt ist, erscheint dem Besucher befremdlich: Eine Gruppe Menschen, die zu kegeln scheint, allerdings ohne Kegel aufzustellen. Sie stoßen eine Gummikugel, laufen in Scharen mitten auf der Straße und kümmern sich nicht um Autos. Es sind immer zwei Mannschaften im Spiel, die eine Strecke von bis zu 6 Kilometern im Wettkampf überwinden. Dabei muss die Gummikugel geworfen werden. Das Team, das die Strecke mit den wenigsten Würfen überbrückt, hat gewonnen. Fast wie beim Kegeln. Und doch einmalig.
4.1. Die Boßel-Regeln in Kurzform:
- Strecke suchen, sie soll zwischen 4 und 9 km lang sein
- Team suchen, ideal sind zwei Mannschaften mit etwa 4-6 Spielern
- Ein Team beginnt mit dem Wurf, anschließend wirft das andere.
- Das Team, dessen Kugel hinten liegt, wirft solange, bis es mit dem anderen Team wieder gleich auf ist. Es wird solange geworfen, bis das Team die Strecke des Gegners eingeholt hat. Dann ist wieder das gegnerische Team dran.
- Die Spieler werfen reihum, immer in derselben Reihenfolge der Werfer.
- Kommt die Kugel von der Straße ab, wird vom Fundort, etwa im Graben, eine Senkrechte zur Straße gezogen, als Markierung, wo sie gelandet ist
Die Spielregeln und einen Schreibplan fürs Boßeln findet Ihr auch hier.
5. Warum findet es nur im Winter statt?
Nun ja, der Friese ist eben praktisch, denn im Winter schwitzt man nicht so beim Werfen der Kugel. Also raus, egal ob es stürmt oder schneeregnet. In Gruppen, oftmals Leuchtwesten tragend, ziehen sie die Straßen entlang, die zu dieser Jahreszeit sowieso selten befahren werden.
6. Woher kommt das Boßeln?
Die Tradition des Boßelns reicht mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurück. Genaue Ursprünge liegen im Dunkeln, Historiker gehen davon aus, dass die Menschen einst ihre Feinde mit Stein- und Lehmkugeln beworfen haben und später daraus einen Sport machten. Heute unterhalten die Ostfriesen mehr Boßel- als Fußballvereine, betreiben Wettkämpfe und Turniere. Während die Profis diszipliniert bis nach der Partie warten, wird ist beim Spaßboßeln der gute Schluck Schnaps mindestens ebenso wichtig wie das Werfen selbst. Und eines gehört ebenso zum Boßeln wie die runde Gummikugel: Die gute Portion Grünkohl, die anschließend gegessen wird. Erst dann, so scheint es, ist der Körper wieder so richtig durchgewärmt.
Es gibt übrigens auch eine Boßelapp mit Streckenvorschlägen, mehr über die Sportart kann man auch hier erfahren. Einsteigerkurse könnt Ihr auch bei Joke vom Wattwanderzentrum buchen. Wenn du mehr über Ostfriesland lesen möchtest, findest du hier einen Reiseführer für Ostfriesland und hier habe ich über unglaubliche Orte in Ostfriesland geschrieben.
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2 Antworten
Noch nie davon gehört aber es sieht doch so aus wie „Boccia“ spielen nur natürlich nicht auf die Distanz ( Länge ). Macht sicherlich Spaß und ist gesund den die Wegstrecke muss man ja auch zurücklegen! LG Manni
Echt, Manni, du hast noch nichts von Boßeln gehört? Oh je, dann musst du unbedingt mal hierherkommen. Liebe Grüße