Reisen ist auch immer Begegnung mit verschiedenen Menschen, die man sonst nie getroffen hätte. Mich hat gestern Dieter zu Staunen gebracht, der schon vor 20 Jahren ohne Geld durch die Welt gereist ist. Seine bunten Wollsocken sind mir sofort aufgefallen. So selbstgestrickte, die immer verrutschen. Gemütlich sitzt er am Bug der Fähre nach Hooge und schaut sich die Seehunde an, die sich in der Sonne auf den Sandbänken wärmen. Während alle anderen (auch ich) Handy und Fotoapparat zücken und versuchen, die Robben aufs Foto zu bekommen, genießt Dieter einfach nur.
Er strahlt eine sonderbare Ruhe und Gelassenheit aus und blättert in einem Prospekt über die Hallig Hooge. Auch mein Ziel gestern. Und so kommen wir schnell ins Gespräch, das mich merkwürdig berührt. „Ich hab hier mein ganzes Hab und Gut drin, mehr brauche ich nicht“, sagt er und zeigt auf seinen Rucksack, der ihn die nächsten Jahre begleiten wird, denn er startet eine Tour um die Welt. „Das habe ich vor 20 Jahren schon mal gemacht, zu Fuß und ohne Geld.“ Erstaunlich, so früh, ich habe gerade den Eindruck, dass es momentan in Mode gekommen ist, sich aufzumachen, um alles hinter sich zu lassen und ohne viel Geld die Welt zu erkunden. Ein besonders schönes Beispiel sind Gwendolin Weisser und Patrick Allgaier, die es mit ihrem Film „Weit“ dokumentiert haben. Eine Dokumentation, die mich stark beeindruckt hat. Dieter hat dasselbe schon vor 20 Jahren gemacht?
„Ja, ich hatte einen Burnout und hab von KFZ-Mechaniker auf Fußpflege umgeschult. Dann habe ich meinen Fußpflegekoffer gepackt und bin um die Welt gereist, von Finnland nach Indonesien.“ Er hat massiert, gecremt und Schrunden weggemacht – und kam so immer auch ins Gespräch mit den Menschen. „Über die Füße lernt man die Menschen am besten kennen.“ Gefallen haben ihm vor allem die alten Menschen, die noch so viele Geschichten zu erzählen hatten und ihre ganz eigene Würde dabei trugen. „Heute ist alles anders geworden. Die Generation ist eine andere“, sagt er.
Dass er dann doch vom warmen Traumreiseziel Indonesien zurück nach Deutschland gekommen ist, hat einen für mich erstaunlichen Grund, denn wie oft träume ich davon, noch mal neu anzufangen, in der Wärme irgendwo anstatt im kalten, nassen Norden. Dieter gibt schließlich zu: „Ich habe die vier Jahreszeiten vermisst.“ Im hohen Norden gäbe es nur ganz hell und ganz dunkel, ganz warm und eisig kalt, nichts in der Mitte. Und in Indonesien lächeln alle dauernd, es ist immer feucht, warm und grün. „Da fehlt mir die Struktur, die unsere vier Jahreszeiten mir geben. Ich brauche diese Struktur, deswegen bin ich zurückgekehrt. Das Leben mit den Jahreszeiten ist etwas Schönes.“ Da hat er irgendwie recht. Jetzt zu sehen, wie die Felder abgeerntet sind, Kohl und Kübisse in den Bauernläden bestaunen und die ersten kühlen Tage erwarten. Dass das etwas Besonderes ist, wäre mir so aber nicht in den Sinn gekommen.
Dieter erzählt mir, dass er mittlerweile 61 Jahre alt ist, seine Kinder sind erwachsen und haben eigene Kinder. Die beste Zeit, um selbst noch mal loszugehen und Kopf und Herz freizumachen. „Wir denken alle zu viel und machen uns zu viele Gedanken. Haben Angst um unseren Besitz oder die Zukunft. Aber was brauchen wir denn eigentlich? Wir belasten uns mit viel zu vielen Dingen, die wir doch alle später nicht mitnehmen können. Das ganze Materielle interessiert mich nicht. Ich will frei sein.“ Diese Worte sitzen erstmal. Große erste Worte, dafür, dass wir uns noch nicht mal eine halbe Stunde kennen.
Die nächste knappe Stunde, die wir zusammen verbringen, bringt er mich noch oft zum Nachdenken. „Wir verbrauchen alle viel zu viel. Wollen große Häuser, schicke Autos und vergessen dabei zu leben. Wir planen, sind immer im Morgen oder gestern anstatt im Jetzt.“ Irgendwie spricht er mir voll aus der Seele. Jetzt, genau in diesem Moment hier zu sein mit meinen Sinnen und Gedanken, empfinde ich auch als sehr wichtig und riesige Aufgabe. Merkwürdig, manchmal trifft man Menschen, die wie Leuchttürme wirken und einen immer wieder auf den Weg bringen. Dieses Gespräch entwickelt sich gerade dorthin, das finde ich ein wenig unheimlich.
Er fragt, was ich an der Nordsee mache. „Für ein Buch recherchieren“, antworte ich und er fragt interessiert nach, wie ich arbeite. Und während ich erzähle, merke ich wieder mal, wie sehr ich das mag, was ich tue: Reisen und schreiben. „Wenn man seine Berufung zum Beruf machen kann, ist es das Beste. Auch das ist Freiheit.“ Ja, da hat er irgendwie Recht.
Dieter sagt, er wolle jeden Tag genießen. So wie jetzt in unserem Gespräch unter diesem dramatischen Nordseehimmel. Ein Himmel, der sich gerade nicht entscheiden kann, ob er sich mit dunklen Wolken schmücken oder in seinem blauen Kleid zeigen soll. Dieter erzählt mir, dass er jeden Morgen vor Sonnenaufgang aufstehe und sich dann erstmal eine Zeit nehme, um sich zu besinnen. Auf das, was er hat, was schön ist im Leben. Meditation nennen das viele, die sich ebenfalls um diese Zeit hinsetzen, um sich in sich zu versenken. Auch der Dalai Lama tut das jeden Tag ausgiebig. Dieter zuckt mit den Schultern. Ob der Dalai Lama das auch tut oder nicht, wichtig sei eigentlich, was ihm gut täte. „Das ist meine Kraftquelle für den Tag. Dann kann eigentlich nicht mehr viel schief gehen. Wir müssen alle viel mehr anfangen, uns selbst zu lieben, erst dann können wir auch andere lieben.“ Und wieder hat er mich. Wie oft fängt der Tag so besonders schön an, wenn ich es morgens geschafft habe, an der Luft zu sein und in den Sonnenaufgang zu schauen? Dann bin ich oftmals einfach nur glücklich.
„Genau das ist Leben. Glück finden. Das kann ich hier auf der Fähre in der Nordsee, in der Heide oder aber in Asien. Ich möchte spannende Menschen treffen, möchte mich weiterentwickeln und einfach nur frei sein.“
Ein Jahr reiche sein Geld, um zu reisen. Und dann will er schauen. Vielleicht unterwegs arbeiten. Vielleicht auch nicht. „Dann schlafe ich eben auf der Straße. Das macht mir auch nichts. Es ist auch eine Form von Freiheit.“ Auf der kleinen Hallig Hooge ist er schnell aus meinem Blickfeld gehuscht. Weg war er auf einmal – und hat mir eine Menge Stoff zum Nachdenken dagelassen.
8 Antworten
Ein wunderbarer Artikel über ein großes Thema!
Danke liebe Andrea, das freut mich sehr! Ich war ja nicht ganz sicher, ob ich das hier schreiben soll, hab es aber dann trotzdem getan!
Das war ja eine spannende Begegnung! Gut, dass Du das aufgeschrieben hast. Den Film „Weit“ habe ich auch gesehen, er hat mir sehr gut gefallen…
Liebe Gudrun, danke! Ja, manche Geschichten müssen einfach „raus“, da hilft alles nichts. Ich hätte noch Stunden mit dem reden können, ein beeindruckender Mensch. Und weit – ja, daran darf ich gar nicht denken, sonst komme ich hier glatt ins Träumen…Liebe Grüße nach Österreich und danke für den Kommentar!
Doch! Es war gut, dass Du über diese ganz besondere Begegnung, über diesen ganz besonderen Menschen geschrieben hast. Nicht nur Dir hat er mit seinen so wahren Ansichten über das Leben eine Menge Stoff zum Nachdenken hinterlassen …
Danke für diesen wunderbaren Artikel!
Danke, das ist aber sehr lieb von dir und motiviert für weitere Beiträge. Ja, ich musste es einfach schreiben, weil es so besonders war. Und das ist das Schöne am Bloggen, man hält solche Momente auch fest, anstatt sie zu vergessen.
Mich hat dieser Mann, obwohl ich ihm nicht persönlich begegnet bin, so einige Dinge klar gemacht.
Vor allem – er hat Recht – der Mensch braucht gar nicht so viel um glücklich zu sein.
Danke dafür, dass Du über diese Begegnung berichtet hast.
Jetzt werde ich diesen Tag ausklingen lassen, ins Bett gehen und vor dem Einschlafen noch einmal über das gerade gelesene nachdenken.
Liebe Lilo, danke für den Kommentar und das Motivieren. Ich bin so froh, dass ich drüber berichtet habe, denn dann kann ich letztendlich auch mich selbst immer wieder an diese Dinge erinnern, die man zu leicht im Alltag vergisst. Nein, wir brauchen nicht viel, um glücklich zu sein, manchmal ist es besser, weniger zu haben.
Liebe Grüße