Nordstrandischmoor? Nie gehört? Das ist eine der zehn Halligen in der Nordsee – und eine ganz andere Welt. Für wirklich Exotisches muss man nicht weit reisen.
Der Boden wabert unter meinen Füßen. Weich wie Wackelpeter schmatzt er unter jedem Schritt. Fuß in der dunkelgrauen Pampe versenken, hoffen, dass keine Muschel ungünstig auf dem Grund liegt und mit riesigem Geschlürfe den Fuß wieder rausziehen. So geht das seit zwei Stunden. Nicht nur schöne Frauen, sondern auch einsame Halligen wollen eben erorbert sein. Einfach zu erreichen ist sie nicht, es sei denn, man hat eine Lore. Doch dazu später. Meine Beine sind schwarz vor Modder, ich hoffe die ganze Zeit nicht auszurutschen.
Die Wattwanderung nach Nordstrandischmoor gehört zu den anspruchsvollsten in der Nordsee, weil der Boden unter den Füßen nicht fest ist wie sonst im Wattenmeer, sondern weich wie Butter. Wieso wollte ich nur unbedingt nach Nordstrandischmoor wandern? Eine Hallig kann ja so anders auch nicht sein, als eine ganz normale Insel, oder? Soll ich nicht lieber umkehren? Und wie immer ist es meine Neugier, die mich vorantreibt, die mich weitergehen lässt, anstatt umzudrehen. Ich bin völlig müde, total hungrig, doch jetzt aufgeben wäre doof. Es geht durch Priele und über Salzwiesen. Obwohl die erste Warft so nah aussieht, scheint es, als dehne sich die Strecke immer genau in dem Moment, in dem ich denke: Gleich bin ich da. Irgendwann ist es dann doch geschafft und ich setze das erste Mal in meinem Leben den Fuß auf eine Hallig. Ich war schon auf Sansibar und am Amazonas, aber zu einer Hallig habe ich es bislang nicht geschafft. Auch keine Leistung, auf die man stolz sein kann und höchste Zeit, das endlich mal zu ändern. Schon gleich auf den ersten Metern Gras, über das ich laufe, wird mir schnell klar, dass das ein ganz besonderes Stückchen Land ist, auf dem ich gerade herumtrete. Es ist so ruhig so friedlich, so unberührt und wild. Etwas, was ich so in der Mongolei oder in Grönland gefunden habe, dieser stille Frieden in der Kargheit. Besonders ist es auch wegen der Luft, auf Nordstrandischmoor fährt kaum ein Auto, höchstens Traktoren brummen über den Weg. Die Luft ist so klar und rein, dass ich gar nicht genug davon bekommen kann. Allein deswegen könnte ich meinen Aufenthalt schon verlängern und würde am liebsten noch mehrere Tage bleiben, doch es geht heute abend leider wieder zurück.
Wattführerin Regina Matthiesen steuert erstmal das kleine Gasthaus auf der Hallig an. „Essen Sie die Fischfrikadellen, die sind hausgemacht und sehr gut.“ Aber ich entdecke den friesischen Schafskäse auf selbstgebackenem Halligweißbrot – auch toll und genau das Richtige nach der Wanderung. Dabei fällt mir der Gastwirt auf, der mich aus so tiefen, klaren blauen Augen anschaut. Lebenslust, sehr viel Gelassenheit und Wohlwollen liegen in seinem Blick. Als er mit den Teller rüberreicht, frage ich ihn, ob er mir was zu seinem Leben auf der Hallig erzählen kann.
Seit drei Generationen lebt seine Familie schon auf der Hallig, sein Großvater ist damals von Langeneß nach Nordstrandischmoor „ausgewandert“ und hat sich die Warft gekauft. Heute wohnt der 60-jährige August Glienke dort mit seiner Frau und seinen Kindern und Enkelkindern. Auf die Frage nach seinem Beruf, schmunzelt er breit: „Ich bin Landwirt, Gastwirt, Wasserwerker, Schafzüchter, Postbote.“ Eigentlich auch noch Wahllokalleiter zur Bundestagswahl, aber: „Wir machen hier alle Briefwahl, das ist besser, bei so wenig Menschen hier weiß man sonst genau, was wer angekreuzt hat.“
Ob es nicht manchmal einsam sei, frage ich die Frage, die er sicher nicht mehr hören kann. Seine blauen Augen blitzen mich an und er sagt: „Man muss die Natur schon lieben, wenn man hier wohnt. Vor allem, wenn 25-35 mal im Jahr Landunter kommt.“ 25-35 mal im Jahr? Ich dachte, das würde nur alle paar Jahre mal vorkommen? „Nein, immer wenn wir Springtide und Sturm haben, dann wird die Hallig überspült.“ Dann liegen die Warften wie kleine Inseln im Wattenmeer, wo Weidefläche für Schafe und Wasserbüffel war, hat sich dann die Nordsee meterhoch das Land zurückerobert. Wann das ist, das hat er meistens schon vorher im Gespür, trotzdem hört er dann gebannt die Wettervorhersagen, bringt seine Tiere auf die Warft, damit sie nicht ertrinken. Wie das aussieht, zeigt dieser Film von der Hallig Hooge eindrucksvoll.
Nordstrandischmoor hat aber einen Vorteil, den andere Halligen nicht haben: Sie ist per Damm mit dem Festland verbunden. Die Einwohner haben sich für die Schienen eigene Loren gebaut, meistens mit Rasenmähermotor. Es ist ein völlig skurriles Bild, wenn sie mit ihren Gefährten mitten durch die Nordsee kutschieren – mich packt die Abenteuerlust und ich würde auch gerne Lore fahren. August Glienke schüttelt den Kopf: „Das dürfen wir leider nicht, nur Feriengäste, die länger bleiben und übernachten, holen wir mit der Lore vom Festland ab.“ Schade.
Für ihn ist der Lorendamm ein Segen: „Ich bin fast jeden Tag auf dem Festland, Besorgungen machen.“ Doch im Winter sind die Gleise gerne mal vereist, dann ist er mit den 27 Halligbewohnern auf dem kleinen Stück Land eingeschlossen, kann nicht einkaufen oder schnell etwas erledigen. „Wir müssen alles gut planen“, sagt er. Im medizinischen Notfall kommt ein Hubschrauber, aber das käme selten vor. Zu schaffen mache ihm in letzter Zeit eher sein Job als Postbote. „38 Jahre lang ist das gut gegangen und ich hatte nicht viel Arbeit. Dann kam das Internet und ich kann mich vor Paketen gar nicht mehr retten.“ Dann schnappt er sich seinen Trekker und liefert die Post an die anderen Warften aus. Stolz erzählt er, dass seine Hallig keine Probleme mit dem Nachwuchs habe. „Durch den Damm sind wir gut mit dem Festland verbunden, deswegen wohnen die Menschen gerne hier. Inzwischen gibt es bei uns 8 Kinder.“ Ein Lehrer unterrichtet 4 Kinder in der Halligschule bis zum Hauptschulabschluss. Und gibt es auch einen Halligpastor? „Der kommt nur Weihnachten und Ostern. Wir sündigen hier nicht so oft“, sagt Glienke und schaut spitzbübisch seine Frau an.
Der Aufenthalt wurde unterstützt von Nordseetourismus – danke dafür.
25 Antworten
Hallo Andrea,
ein mega-schöner Beitrag – ich würde am liebsten gleich die Koffer packen. Auch die Fotos sind klasse. Am besten gefallen mir die mit den Monden in der Dämmerung, wie kriegst du das bloss hin? Bei mir werden solche Fotos nie was. Welche Kamera hast du? Das Foto mit dem Priel (?) in der Mitte gefällt mir, aber auch besonders das erste im Blog, das Haus. Mega! Du solltest Postkarten davon machen … Sehnsuchtsorte !
liebe Grüße
Tanja
PS: Eigentlich möchte man solche Orte doch am liebsten geheimhalten, oder?
Liebe Tanja, ja, ähm das ist immer auch Glückssache mit den Bildern 🙂 Und eigentlich bräuchte ich ein Stativ, aber ich drehe einfach die Iso ganz hoch, das kann man ja auch an der Bildqualität leider sehen, aber immer mit Stativ zu reisen, geht für mich einfach auch nicht. Danke dir, ich freu mich so sehr über solch gute Rückmeldungen! Ja, der Ort ist Weltklasse und etwas ganz Besonderes. Liebe Grüße
Liebe Tanja, ich sehe da nicht so die Gefahr, dass da viele hinreisen und es boomt, dazu werden viele Menschen einfach den Komfort vermissen. Und nicht jeder mag stundenlang durch die Pampe wandern.
Welch ein schöner Beitrag, Andrea, ganz toll.
Liebe Grüße
Anni
Danke dir! Die Hallig ist einfach toll, da kommt das andere ganz von selbst. Schönen Sonntag dir!
Ein ganz toller Bericht und so eine Wattwanderung war bestimmt sehr interessant und anstrengend. Ich habe bisher nur auf festerem Watt wie zum Beispiel von Amrum nach Föhr eine Wattwanderung gemacht
LG Andrea
Danke, liebe Andrea! Du hast übrigens gerade den 1000. Kommentar auf meinem Blog geschrieben, darüber freue ich mich gerade unglaublich! Die Wanderung war anstrengend aber es sich ja auch gelohnt. Amrum nach Föhr ist ja der Klassiker und bestimmt auch großartig, oder? Liebe Grüße, schönen Dank für den 1000. und einen ganz schönen Sonntag
Hallo Andrea,
ich bin wieder so richtig begeistert von diesem wunderschönen Eintrag.
Am liebsten würde ich sofort los düsen!
Wattwanderungen sind sehr anstrengend, aber richtig gesund für die Füße.Klar man muss aufpassen wo man hin tritt.
Meine Letzte Wattwanderung habe ich auf der Insel Læsø in DK gemacht,
Die Insel ist auch sehr , sehr schön.
Liebe Grüße und danke für´s Mitnehmen,
Lilo
Ein wunderschöner Beitrag, liebe Andrea.
Da bekomm ich richtig Lust auf Schlick…vielleicht eine Idee fürs nächste Jahr!
Danke für die tollen Bilder und Worte und das Neugierigmachen.
Schönen sonntag noch und fühl dich lieb umärmelt
Gabi
Liebe Gabi, oh, das freut mich ja. Der Ort ist ein wunderbarar, wirklich. Ich ganz überrascht und hätte das so nicht erwartet. Aber dass man Lust auf Schlick bekommt, ist mir auch völlig neu 🙂 finde ich aber so richtig gut. Danke für das Lob, das freut mich sehr. Und ja – alles Liebe zurück!
Liebe Lilo, oh, das freut mich aber sehr, wenn ich dich mitnehmen konnte, denn dieses ist ja auch ein Herzensort geworden. Wattwanderungen sind gesund ja und diese schöne Fußmassage hat auch etwas ganz Besonderes. Auf Laeso war ich noch nie, obwohl ich schon so oft in Dänemark war. Lieben Dank für deine Worte und ganz viele Grüße
Freut mich sehr Andrea, einen Bericht über die Hallig zu lesen. Ist perfekt geworden, mit wundervollen Bildern, danke!
Noch eine Anmerkung: Nordstrandischmoor (oder Lüttmoor wie die Halligbewohner es nennen) ist nicht die einzige Hallig, die per Lorendamm mit dem Festland verbunden ist. Auch die Halligen Oland und Langeneß haben eine solche Verbindung zum Festland.
HerzlichenGruß,
Helmut
Lieber Helmut, danke für deinen Kommentar, da freue ich mich aber sehr. Das mit den Loren weiß ich, habe es wohl nicht deutlich genug ausformuliert. Hm, dann muss ich da noch mal feilen. Viele Grüße und danke fürs Vorbeischauen hier und dein Lob für meine Bilder
Hallo Andrea, langsam werde ich neugierig auf Dein Buch… Aber Du wirst sicher mehr verraten, sobald Du „darfst“…. Toller Beitrag. Liebe Grüße, Stefanie
Liebe Stefanie, hihi 🙂 klar, werde ich das. Die schönsten Geschichten daraus landen aber hier, hab gar nicht soviel Platz im Buch. Ganz viele Grüße zurück
Ein Traum! Da oben sagte jemand etwas von „geheim halten“ … Ich glaube, du hast recht: Viele finden so einen Ort schön, aber der Aufwand, dorthin zu gelangen, der mangelnde Komfort (Ist es wirklich ein Mangel an Komfort?), „Igitt“-Faktor – Pampe : ) – beim Wandern … Vielleicht oder hoffentlich hält es zu viele Besucher fern. Wobei ich manchem wünschen würde, so eine Erfahrung zu machen. Das erdet uns doch! Liebe Grüße, Jutta
Liebe Jutta, diese Pampen-Erfahrung war schon speziell. Einerseits richtig toll und sinnlich, andererseits aber hat man auch immer die Angst, in der Glitsche auf eine Muschel zu treten und die Füße aufzuschneiden. Das schmälert die Freude etwas. Umso schöner aber, wenn man es endlich geschafft hat. Es ist eine wunderbare Erfahrung dort, ehrlich. Das kann ich nur jedem empfehlen.
Liebe Grüße
Liebe Andrea,
ich wusste gar nicht, dass man da sogar zu Fuß hinlaufen kann – und auch nicht, dass man da übernachten kann. Schön, dass du Zeit und Gelegenheit hattest, mit August Glienke zu sprechen. Meine Zeit dort war zu kurz. Aber er hat unserem Schiff beim komplizierten Anlegemanöver geholfen.
Liebe Grüße
Angela
Liebe Angela, ach schade, dass du nur so kurz dort sein konntest. Ich möchte noch mal dorthin – mit Kind natürlich. Mal schauen, ob das klappt.
Liebe Grüße
Lüttmoor ist meine persönliche Lieblings-Hallig.
Das erste Mal war ich im März 2002 während der Lammzeit zu Gast auf der Hallig,seitdem verbringe ich mehr oder weniger den gesamten Jahresurlaub dort.
Bevorzugt im März,wenn die Schafe ihre Lämmer zur Welt bringen und dann wieder im November,wenn es schön aufbrist.
Auf ein Landunter habe ich lange warten müssen-knapp 16 Jahre lang.
Dann gab es 2018 gleich 5x dieses wohl einmalige Naturereignis.
Ich mag die Weite dieser Hallig,die Ruhe und Abgeschiedenheit,ihre Natur und besonders die Tatsache,daß es dort keinen Massen-Tourismus gibt.
Einen längeren Aufenthalt dort kann ich wärmstens empfehlen.
Lieber Ralf,
das klingt traumhaft, tatsächlich möchte ich auch noch mal länger auf eine Hallig gehen, aber momentan steht das leider nicht an und muss noch warten. Ich beneide dich ein wenig, um diese schöne Erfahrung. Das klingt traumhaft!
Danke fürs vorbeilesen bei mir
Andrea
Ein super Beitrag und wunderschöne Bilder. Vor zig Jahren war ich schon einmal auf Nordstrandischmoor und habe die Familie Glienke kennen gelernt. Die Tagestour war einfach ein unvergessliches Erlebnis. Durch Ihren Betrag sind mir emotional die Erinnerungen hoch gekommen. Was für ein schöner Bericht. Ich plane meinen 30. Hochzeitag mit meinen Kindern und Enkel dort zu verbringen als Tagestour mit Essen. Hoffentlich klappt es.